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Überschwemmung in Santiago

Etwa zur Zeit meines fünften Geburtstags, wir wohnten noch im hier beschriebenen Bungalow, begann es in Santiago ungewöhnlich stark zu regnen. Die Stadt liegt nahe dem 34. südlichen Breitengrad, das entspricht auf der nördlichen Halbkugel ungefähr der Lage von Marokko. Aber das Klima ähnelt eher dem Siziliens. Im Jahr des El Niño kann allerdings alles anders sein denn das Meer erwärmt sich ungewöhnlich. Ob er tatsächlich die Ursache dafür war, dass sich die Himmelschleusen wie nie gesehen öffneten weiß ich natürlich nicht.



Santiago in den Sechzigerjahren.
Und so sieht die Stadt jetzt aus. Im Winter, wenn in den Höhen Schnee fällt erstrahlen die Anden, aber heutzutage sieht man sie wegen des Smogs leider nur noch selten.


Unser in einem Außenbezirk gelegenes Bungalow stand direkt an einem Kanal der am Ende der Straße in den Fluss Mapocho mündete.
Es kam wie es kommen musste, der überaus schmutzige Kanal ging über. Zunächst betraf uns das nicht, denn er floß hinter einer hohen Mauer. Jedes Grundstück entlang des Flusses war von solchen Mauern umgeben, aber irgendwie war wohl beim ersten Wasser eingedrungen und der Besitzer schlug ein Loch in die Wand zum Nachbarn um den Fluten Herr zu werden. Der nächste tat es ihm gleich und in einer Kettenreaktion kamen auch wir bald in die Lage es tun zu müssen.

Ich war gerade sehr krank, hatte Lungenentzündung und Gelbsucht zugleich. Als ich diesen Morgen erwachte, fiel mein erster Blick auf den Teppich, er lag so überraschend hoch und ich dachte ich träume. Erst allmählich begriff ich, dass er auf einer braunen Brühe schwamm und auch heute erinnere mich noch gut an mein damaliges Entsetzen!

Meine arme Mutter! Sie war gerade hochschwanger und erwartete ihr viertes Kind. Wir konnten in kein höheres Stockwerk flüchten, es war ja, wie gesagt, ein Bungalow.

Welch eine glückliche Fügung, dass mein Vater in dieser Zeit gerade nicht auf einer seiner ausgedehnten Fotoreisen war. Er war in vielen Jahren allzu oft in der Wildnis verschollen und ging seiner Leidenschaft nach, Land und Leute zu fotografieren. Über die Wüste Atacama bis in die Antarktis hatte er das ganze Land bereist.
Meine Mutter war dann alleine mit vier Kindern und oft wochenlang ohne Nachricht. Ohne Versicherung, mit wenig Geld und ganz schutzlos muss sie oft große Sorgen gehabt haben. Aber sie hatte verlässliche Freundinnen, ohne die wäre es nicht gegangen.

Wie es dann weiterging ist mir entfallen, ich weiß nur, dass ich für einen Monat zu einer sehr lieben "Tante" kam. Die "Deutsche Kolonie" hielt zusammen und man half sich gegenseitig wenn jemand in Not war.

Als dann mein Bruder geboren war und mich meine Mutter abholte, fügte ich ihr eine sehr schwere Kränkung zu. Ich wollte nicht mit und heulte, sagte ihr, die andere sei nun meine Mutti. Ich war von dieser Frau so ungemein liebevoll verwöhnt worden, hatte dort Spielkameraden in meinem Alter, aber zu Hause war es ganz anders, meine Mutter war immer sehr "abgerackert" wie sie zu sagen pflegte und spielte nie mit uns Kindern.
Damit aber kein falscher Eindruck entsteht, ich habe meine Mutter sehr geliebt.

Die schmutzigen Spuren der Überschwemmung an den Wänden des Hauses waren nicht wegzubekommen und wir sind dann sehr bald umgezogen.

Hier sieht man meinen Vater auf Feuerland im Jahr 1959:



Nickname 26.11.2005, 00.19

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Kommentare zu diesem Beitrag

3. von Sunny

Liebe Tirilli,

was du uns hier erzählst, ist einfach faszinierend. Hast du dich denn noch nicht mit dem Gedanken getragen, darüber ein Buch zu schreiben?
Unglaublich, was du schon als Kind für Abenteuer erlebt hast, wenn auch nicht unbedingt immer im romantischen Sinn.
Deine Mutter war eine sehr starke Frau. Wenn ich an mich Angsthasen denke und auch nur annähernd in so einer Situation vorstelle, dann bekomm ich allein davon schon Panik :D
Das Foto ist super. Dein Vater sieht ziemlich fesch aus. Meines Vaters größte Leidenschaft war auch das Fotografieren und Filmen. Oft saß ich neben ihm in der Dunkelkammer und hab ihm beim Entwickeln zugesehen. Das fand ich immer hoch interessant.

Danke für diese Erinnerungen, liebe Tirilli.

Ich wünsch dir einen gemütlichen 1. Advent am verschneiten Wörthersee ...

winke, Sunny :)

vom 26.11.2005, 17.29
2. von Frau Waldspecht

Wie immer spannende, informative und unterhaltsame Geschichten von Frau Tirilli. Dankeschön und ich hoffe azf mehr.
Liebe Grüße, Anette (ich bin immer noch unfertig ;-) ).

vom 26.11.2005, 15.42
1. von Eveline

Zum Schreiben war ich des nächtens um 4,00 nicht mehr fähig, aber danke für die Gute-Nacht-Geschichte :)
Ich les sowas gerne und wunder mich immer, wie weit sich Manche zurückerinnern können - na, das war wohl auch ein einschneidendes Erlebnis...

Und fesch war er, dein Papa :)

vom 26.11.2005, 11.56