Ausgewählter Beitrag

Vorurteile allerorten

Als ich gestern das Theater vorzeitig verließ, sagte jemand zu mir ironisch: "Du gehörst nun also auch zu denen!" Tatsächlich waren bei der Premiere zwei Tage zuvor viele aufgestanden und gegangen. Der Regisseur hatte damit gerechnet und sich ins Bistro vis a vis gesetzt, um die Szene vor dem Theater beobachten zu können.

"Die" - damit meint man in diesem Zusammenhang die Verdränger, die Selbstzufriedenen und Satten, die oberflächlichen Spießbürger.

Diese Ansicht gab es schon immer, teilweise natürlich zu Recht. Besonders aktuell wurde sie aber in der Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs und der Jugendrevolten in den späten Sechzigerjahren. Die junge Generation hatte die Aufbaumentalität der Eltern satt, man besann sich auf neue Werte und hinterfragte alles. Auch politisch ging es heiß zu, es wurde Traditionelles verworfen oder zumindest heftig hinterfragt. Eine wichtige und heilsame Zeit, finde ich.

Auch die Kunst ging diesen Weg, wie sie eben naturgemäß stets die Tendenzen der Gesellschaft widerspiegelt. Da wurde provoziert, wurden Formen gesprengt und schon auch einmal ein Klavier zertrümmert. Die Empörung der Stituierten war Kraftfutter für die Kreativen und es dauerte Jahrzehnte, bis die neue Freiheit ausgereizt war.

Für die 68iger war ich noch zu jung, aber ich bewunderte sie. Jahrelang gehörte ich zu den begeisterten Anhängern der alternativen Szene. Lässig gekleidet gab ich mir die aktuelle Kunst und suchte das Neue.

Nun war ich also gestern in der Pause gegangen und wurde flugs in die Schublade derer gesteckt, die ich selbst stets kritisch beobachtet hatte.
Dadurch wurde mir bewusst, wie sehr diejenigen, die gerne den Kampf gegen Vorurteile auf ihre Fahnen heften, unbemerkt die gleichen Fehler machen können.
Da nehme ich mich selbst nicht aus!
Aber nicht jeder, der zum Beispiel eine wilde Theateraufführung vorzeitig verlässt, muss automatisch ein konservativer Verdränger sein.

Osram Unke schrieb in einem Kommentar zu meinem gestrigen Beitrag unter anderem:
"Wird die Welt dadurch besser, daß ich die Tatsachen und die Realität negiere?? Lebe ich dann nicht nur in einer künstlich-rosaroten Scheinwelt...
Der Wahrheit muß man ins Auge schauen, durch Verdrängen ist nichts gelöst."
(Siehe auch ein Beitrag in "Matrixwelten")

Aber hallo! So viel Schwarz-weiß-Malerei! Es gibt ja schließlich auch noch etwas dazwischen.

Ich werfe dem Ressigeur Kušej nichts vor. Höchstens, dass er davon ausgegangen ist, das Publikum ordentlich in die Mangel nehmen zu müssen. Aber nicht alle sind abgestumpft. Manche ertragen den Horrortrip eben nicht mehr. Nicht, weil sie verdrängen, ganz im Gegenteil. Weil sie sich schon intensiv genug mit menschlichen Unzulängflichkeiten auseinandergesetzt haben und sich nun den Luxus leisten können, wenn ihnen danach ist, zu angenehmeren Abendbeschäftigungen überzugehen.

Nickname 24.09.2006, 03.13

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Kommentare zu diesem Beitrag

1. von CeKaDo

Die Freiheit, dann gehen zu dürfen, wenn das Maß des Erträglichen erreicht ist, ist unschätzbar!

Schließlich ist niemand gezwungen, sich den Tollereien eines einzelnen Menschen (in diesem Falle eines Regisseurs) sklavisch zu unterwerfen.

Ich lasse mich weder von einem Buch (und damit dem Autoren) noch einem Bühnenstück oder Film beherrschen. Wenn für meine Meinungsbildung 20 Sekunden oder auch ein Akt ausreichen, dann reicht es eben!

Jeder, der gegangen ist, wird sicher seine eigene Motivation dazu gehabt haben. Deine war eben für Dich das Erreichen Deiner perönlichen grenze und somit brauchtest Du auch nichts "aushalten".

Verliert man neuerdings das Gesicht, wenn man stark genug ist, eine individuelle Meinung zu zeigen?

Allein wenn der Regisseur schon gegenüber auf Reaktionen lauerte, so zeigt es doch, daß er mit seinem Stück nichts zeigen oder gar unterhalten wollte. Seine Intension war Macht und das Auskosten dieser Macht.

Wie verwerflich und unappetitlich!

vom 25.09.2006, 13.23