Ausgewählter Beitrag

Noch einmal zum Thema

Unlängst walkte ich wieder ein wenig. Das kommt im Moment nicht oft vor, wegen meinen kranken Oberschenkeln. Aber wenn, kann es sein, dass ich eine ca. 80-jährige andere Walkerin treffe. Am Tag vor dem letzten Eintrag war es wieder so. Früher grüßten wir uns nur freundlich, aber daraus wurde  gelegentlich ein Schwätzchen. Und das läuft dann so ab: Gefühlte 20 Minuten über deren Krankheiten. Ich bin diesmal kurz dazu gekommen, mit einem halben Satz meine Oberschenkel zu erwäh...  aber zack, wusste ich bald alles über ihren Magen. Mein inneres Zappeln verheimlichend wünschte ich mich auf die andere Straßenseite. 
In der Pensionisten-Gruppe die meine Salzburger Schwester besucht, ist das Thema Krankheiten fast tabu. Finde ich gut! Denn es ist ja doch das, was alte Menschen in ihrer inzwischen eng gewordenen Welt am meisten beschäftigt. Draußen sollten sie doch mal davon abgelenkt sein?

Ganz etwas anderes ist, wenn jemand drückend echte Sorge um seine Gesundheit hat. Zuhören fühlt sich da ganz anders an und es zu tun ist kostbar.

Zum anderen Thema, die Reduktion auf ein Dasein als Seelenklo.

"Ich kann mir vielleicht vorstellen, was „Seelentoilette“ bedeutet. Sind das Menschen, die ihre Probleme verschlimmern, indem sie diese mit ihrer Aufmerksamkeit füttern und von dir erwarten, dass du mitmachst?" *

* Übersetzung verbessert.

Im Chor saß jahrzehntelang eine die nie anders konnte als in einem leisen monotonen Ton von einer ihrer Katastrophen nach der anderen zu erzählen. Immerzu und nie anders. Wenn sie schwieg, summte sie oft in sich hinein. Ihr inneres Unglück war spürbar. Sie hatte ja auch Rucksäcke zu tragen! Vor einem ihrer Kinder fürchteten wir uns alle schon, als es noch ganz klein war. Eine Jugend mit Heroin folgte. Das andere Kind warf ihr vom 2. Stock aus einen Blumentopf auf den Kopf. Das dritte ist nicht gesund. 

Wir verloren uns vor mehr als zwei Jahrzehnten aus den Augen weil der Chor sich aufgelöst hatte. Ich wollte es so. Aber unlängst rief sie mich wieder einmal an. Dieselbe Leier. Nach einer halben Stunde spürte ich, wie mein inzwischen verkrampfter Bauch sich langsam versteifte. Das tut er auch jetzt in der Erinnerung wieder! Wie es ihrem Gegenüber mit ihren düsteren Erzählungen geht, nimmt sie auch jetzt noch nicht wahr.
Es war das erste Mal, dass ich jemandem unsensibel sagte, keinen Kontakt mehr zu wollen. "Seit meiner schweren Krankheit vor ein paar Jahren kann ich deine Katastrophen nur noch schwer aushalten," sagte ich dazu. Sie fragte natürlich nicht nach. Aber sie war verdattert. Trotzdem suchte sie weiterhin Kontakt. Ich meinte übrigens meine lebensgefährliche Depression damals....

Die Amerikanerin von der das Zitat stammt, ist Uni-Professorin im Fach Psychologie. Diese Art, das auszudrücken kommt von einer, die ausgesprochen liebevoll ist. Zu mir, zu ihren Studenten, zu ihrer Umgebung. In Liebe gesprochen ist das! Ich weiß das ohne Zweifel.

Ich war baff und dann begeistert, wie treffend das gesagt war.


 

Nickname 08.03.2024, 20.00

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Kommentare zu diesem Beitrag

4. von Eva W.

wow ... das ist sehr treffend ... leider kommt man bei den betreffenden Leuten gar nicht soweit, dass man Ihnen diese Erkenntnis mitteilen könnte :-(


vom 17.03.2024, 09.14
3. von Regina

@Bärenmami
Ich kann mir schon vorstellen, dass den jungen Menschen durch die „sozialen Medien“ gar keine Zeit mehr für „persönliche“ Unterhaltungen und Diskussionen bleibt. Sich miteinander zu unterhalten ist wohl aus der Mode… Man sieht auch oft in Cafés Leute zwar zusammen an einem Tisch sitzen, aber jeder tippt oder wischt auf seinem eigenen Smartphone herum!? :-(

vom 11.03.2024, 21.19
Antwort von Nickname:

Ganz schlimm. Sie verlernen die soziale Interaktion. Das wichtigste am Menschen ist in meinem Verständnis die Empathie, wie soll die sich unter den Umständen entwickeln?
2. von Regina

@Tirilli
Deine amerikanische Freundin hat den Ausdruck „Seelenklo“ perfekt verstanden und großartig umschrieben. Wirklich treffend, wie du schreibst. :)

vom 10.03.2024, 22.28
Antwort von Nickname:

Danke für die Bestärkung, Regina! 
1. von Bärenmami

Daß das Zitat gut gemeint war, ist natürlich klar. Das hat doch auch niemand angezweifelt. Und es stimmt auch: Niemand darf sich mißbrauchen lassen, das gilt auch fürs Zuhören.

Nun kommen wir zu einem weiteren Aspekt, den ich bisher außen vor gelassen habe, weil ich dachte, es würde zu weit führen.
Es ist etwas, was ich in den letzten Jahren immer häufiger beobachte: daß immer mehr auch jüngere Menschen überhaupt nicht zuhören können oder wollen. Keine Ahnung, woran das liegt. Es wird nur gesendet, nicht empfangen.
Man bekommt keinen Fuß in die Tür, bzw kein Wort dazwischen.
„sich unterhalten“ ist zu „sich selber unterhalten“ geworden, statt eine Unterhaltung untereinander/ MITeinander zu führen.
Wo sind die oft hitzigen Diskussionen geblieben, die wir in unserer Jugend geführt haben? Liegt es an den „sozialen Medien“ daß nur noch Meinungen vertreten werden?

Ein konkreter Tip: wenn Du innerlich zu zappeln beginnst, ist es höchste Zeit „dringend loszumüssen“, auch wenn dann trotzdem walken gehst, das „muß dann jetzt noch schnell sein weil….“. Geduld ja, aber nur soweit Du sie auch wirklich aufbringen kannst. Selbstfürsorge nicht vergessen. Der andere kennt Deine Grenzen nicht, die muß jeder selber setzen. Spätestens beim geringsten Unwohlsein muß die Notbremse gezogen werden.

Für Deinen ersten Fall hätte ich, wenn genug Zeit, wahrscheinlich sehr viel Geduld und würde mich nicht als seelischen Mülleimer mißbraucht fühlen. Versteh mich nicht falsch, das ist jetzt weder fishing for compliments noch sehe ich Deine Not (und das ist es!) und Reaktion negativ! Es ist einfach eine Tatsache: Ich kann alten Menschen sehr lange zuhören, auch wenn die (Krankheits)Leier innerhalb eines Gesprächs zum dritten oder vierten Mal losgeht. Die Familie, so vorhanden, hört sich das alles längst nicht mehr an. Alleinstehende haben gar keinen Ansprechpartner, da kann es regelrecht herausbrechen. Und trotzdem schaffe ich es, daß wir immer mit einem positivem Aspekt auseinander gehen, egal ob am Telefon oder in natura. Mein Credo: es muß dem Gegenüber nach dem Gespräch besser gehen als vorher - dann geht es auch mir nachher gut. Habe ich nicht genug Zeit oder Kraft um das zu erreichen, so sage ich das sofort und lasse mich auf kein Gespräch ein.

Und da hapert es beim zweiten Fall ganz gewaltig. In so vielen Jahren unverändert? Da warst Du absolut nicht unsensibel, im Gegenteil, bravo: Du hast mutig, gut und sensibel für Dich gesorgt..manchmal muß einfach der Holzhammer her.
Spontane Gedanken am Abend..habt alle ein schönes Wochenende!

vom 08.03.2024, 22.33