Ich schimpfe manchmal lustvoll über Deutschlehrer, die ihre Schülern zu früh verpflichten, Literatur zu lesen, die eigentlich für ältere Leser geschrieben wurde. Ist doch schade, argumentiere ich dann, der Dichter XXX hat sich´s bei einigen der spätpubertären Teenies sicher für immer verdorben.
Dabei bleibe ich, bin mir aber nicht mehr in jedem Fall so sicher. Eine literarische Grundkenntnis ist vielleicht doch nicht so schlecht. Vorausgesetzt, die Literatur wurde nicht durch schwarze Pädagogik zum Feindbild gemacht.
Ich hatte einen Deutschlehrer, den wir alle sehr verehrten. Niemand von uns kam bei ihm auch nur im Entferntesten auf oppositionelle Gedanken. Ganz im Gegenteil, er war der Oppositionelle, was Tendenzen der Gesellschaft betraf.
Und er liebte unsere Klasse. Wenn ein kranker Lehrer zu vertreten war, tat er es, obwohl er es als Direktor der Schule hätte delegieren können. Wir hatten ihn auch in Psychologie und zwar immerzu und wenn es nur ging. :-))
Das Referat, dass er mir 17-Jährigen zuteilte, hatte das Thema
Georg Büchner. Viel zu schwer für das Alter! Aber ich war von dem Lehrer begeistert, also musste auch das Thema etwas Begeisterndes haben, sonst hätte er es nicht ausgewählt. So meinte ich und machte mich ernsthaft daran, diesen Dichter für mich zu erobern. Das Gesamtwerk ist ja nicht sehr umfangreich. Aber puh....! Ich hatte mir mein Scheitern damals jedenfalls nicht eingestanden. Und immerhin, ein vermutlich doch recht ansehnliches Referat wird wohl da gewesen sein. Weil ich ja begeistert sein wollte.
Mir ist klar, damals verstand ich nur die Oberfläche. Und doch, ich habe das Gefühl, trotzdem davon profitiert zu haben. Ich erfuhr, wie die Welt sein kann, wie dunkel, wie anders, wie verrückt. Wie Menschen von Mächtigeren kaputt gemacht werden können, falls sie das zulassen und dass es andere Lebenswelten gibt und wie die sich vor etwa 150 Jahren angefühlt haben. Außerdem, das klingt zwar oberflächlich, ist aber eine angenehme weitere Komponente.... ich konnte beim Thema Büchner mitreden. Ha, mitreden fühlt sich supergut an! ;-)
Heute war ich in der Oper. Gegeben wurde die erste
atonale Oper der Musikgeschichte und die dunkelste noch dazu. Wozzeck von
Alban Berg, nach dem Fragment
Woyzeck von Georg Büchner. Mir war das Werk sehr vertraut, aber ich verstand heute, wie wenig ich damals verstanden hatte. Auch das fühlte sich gut an. :-)
Die Inszenierung ist von Olivier Tambosi. Er sorgte für ein sehr gelungenes Opernereignis. Besonders die überzeichnete Rollenführung des Hauptmanns und des Doktors begeisterten mich. Irgendwie erinnerten sie trotz ihrer ernsten Bösartigkeit an Figuren der Comedia del Arte.
Hier sieht man sie, in der Mitte Wozzeck. Meisterhaft gesungen und gespielt haben sie alle drei. Das guckkastenartige schräge Bühnenbild symbolisiert die verquere enge Sicht der Protagonisten, ihre Seelenqual wurde durch das Herumkriechen im knöcheltiefen Sand stimmig symbolisiert.
Ein spannender Opernabend, auch wenn die Musik vermutlich viele abgeschreckt haben dürfte.
Wozzeck in Klagenfurt